Relevanz – online darstellen

Mit einem simplen Zusatzfilter könnten Online-Newsmedien endlich wieder Bedeutung gewinnen: Wenn sie die Nachrichten für die Leserschaft gewichten würden. Technisch wäre das leicht realisierbar.

Die Werbung! All diese schreienden, flimmernden Ränder! Die Unübersichtlichkeit. Die multimediale Verführung. Die vielen dummen Kommentare. Die Kurzlebigkeit auf der «Frontseite»: Fragt man Medienkonsumenten vor allem gesetzteren Alters (also aus der kaufkraftstarken, werberelevanten Gesellschaftsschicht), was sie an Online-Newsportalen stört, dann werden mit schöner Regelmässigkeit all diese Merkmale des elektronischen Zeitalters aufgezählt.

Offensichtlich hat noch kein Zeitungsverleger und keine Online-Strategin wirklich genau hingehört. Sonst wäre ihm oder ihr aufgefallen, dass der Tenor all dieser Klagen in einem Manko zusammenzufassen ist: Relevanz. Nicht, dass sie in keinem modernen Medium mehr vorhanden wäre. Sondern dass sie nicht mehr zu erkennen ist.

Nein, das Problem ist nicht mit dem Hinweis aus der Welt zu schaffen, dass kommende Generationen ganz natürlich lernen, aus dem multimedialen Überfluss die gewünschten Nachrichten herauszufiltern. Diese Fähigkeit mussten wir nämlich schon im Holzmedien-, Papier-Bücher und Kino-Filmzeitalter erwerben.

Schon damals gab es einen Ozean an Magazinen, Sendungen, Zeitungen und Filmen, und wir wählten mit Bedacht jene Kanäle, von denen wir erwarten konnten, einen sinnvollen Abriss des Zeitgeschehens zu erhalten. Im Rahmen der digital literacy hat sich lediglich die Herausforderung erhöht, aus einer steigenden Quantität an Möglichkeiten zu wählen. Zumindest müsste es so sein.

Der Platzmangel in der Zeitung zwang die Journalisten zur Gewichtung

Es ist aber nicht so, weil ausgerechnet die Medienmacher selber nicht verstanden haben, dass das, was sie bisher als Einengung empfanden haben, für das Publikum eine der wichtigsten Leistungen des Journalismus ist. Der Platzmangel in der Zeitung (deren Seitenzahl sich nach derjenigen der Inserate und nicht nach dem Weltgeschehen richtete), die beschränkte Sendezeit: Sie waren für die Journalisten ein Zwang, auf den Punkt zu kommen und das Wesentliche an Berichten und Nachrichten für einen bestimmten Zeitraum auszuwählen. Für das Publikum bestand damit die Garantie, regelmässig aufdatiert zu werden. «20 Minuten» als Zeitungstitel ist ein Versprechen.

Dieses Versprechen wird online nicht mehr eingelöst. Aus ihrem Kanal «befreit», schicken sich die Verlage an, das Internet im Internet abzubilden, den Ozean im Ozean. Auf dass die Leserschaft länger verweilt, dieses Video noch anklickt und jene Seite (mitsamt einem Werbebanner) ansieht.

Was auf der Strecke bleibt, ist die Einordnung, der Überblick. Die Hitparade der Relevanz, die namentlich die Frontseite einer Zeitung bot.

Relevanz ist kein absoluter Massstab. Aber sie ist auch nicht mit «Interesse» zu verwechseln und durchaus objektiv bemessbar: Journalisten haben bisher gelernt, Relevanz als die Bedeutung einer Nachricht innerhalb der Konkurrenz aller Nachrichten eines Publikationszeitraums einzuschätzen. Die absolute Skala für Relevanz umfasst demnach die drei Dimensionen Nähe, Auswirkung und Betrachtungszeitraum.

Innerhalb aller Meldungen der letzten 24 Stunden mag eine Zugentgleisung in Altstätten mit stundenlangem Ausfall des Bahnbetriebs die relevanteste sein. Betrachtet man aber die ganze Woche, dann kann ein vergleichsweise «langweiliger» Entscheid der US-Regierung für die Mehrheit der Zürcher ungleich relevanter sein, weil er seine Wirkung auf Jahre hinaus entfaltet.

Journalisten und Leserschaft setzten die Dimension des Betrachtungszeitraums unbewusst voraus: In der Tageszeitung stand alles, was innerhalb der letzten 24 Stunden in den einzelnen Themengebieten am relevantesten war; in der Wochenzeitung das, was in sieben Tagen die höchste Relevanz erreichte, und in Monatspublikationen das, was in einem Monat oder noch länger die grösste Bedeutung hatte.

Den Online-Medien ist mit dem Redaktionsschluss der Zeitraum für die Relevanzbemessung abhanden gekommen.

Surft man heute aber die Frontpage einer Newssite an, dann ist unklar, welche Nähe und welcher Betrachtungszeitraum für die Platzierung der Meldungen massgebend ist. Den Redaktionen ist bei der Einschätzung die Dimension «Betrachtungzeitraum» abhanden gekommen: Sie haben keinen Redaktionsschluss und damit keine Publikationspanne mehr.

Also behelfen sie sich mit dem neuen Schlagwort der Echtzeit. Zuoberst steht, was einen gewissen Spektakelgehalt aufweist und zuletzt passiert ist. So wird der Autounfall in Altstätten plötzlich zur Top-Meldung, weil er vor zehn Minuten passiert ist und ein Leserreporter spektakuläre Bilder geliefert hat. Das Publikum aber wird bei der Einschätzung allein gelassen: Ist das die Top-Meldung des Tages? Der Woche? Oder eben doch nur der letzten zehn Minuten?

Der Spruch in den Newsrooms, dass sich auf der Frontseite «etwas bewegen müsse», ist der Abschied vom Prinzip der Relevanz. Aus dem versprechen «All the news that’s fit to print» wird «all the news», aus «20Minuten» wird «So viele Stunden, wie Ihnen langweilig ist».

Informiert sein heisst, die relevanten Meldungen zu erhalten, nicht alle.

Informiert werden heisst aber, die relevanten Nachrichten eines definierten Zeitraums zu erfahren. Die logische Schlussfolgerung für Newssites: Wenn kein genereller Zeitraum mehr feststeht, überlässt man seine Definition dem Leser oder der Leserin. Das führt nicht zu Relevanz, sondern ist Boulevard pur – und ich behaupte rund heraus, dass das zumindest für die Menschen, die sich nicht ablenken, sondern informieren wollen, ein Ärgernis ist. Das Bedürfnis nach Führung im Nachrichtendschungel steigt um die Wette mit der Angst der verunsicherten Journalisten, irgendjemanden «nicht zu bedienen». Also versucht man, Boulevard- und Intelektuellenmedium in einem zu sein – und ist am Ende gar nichts mehr.

Mein Vorschlag für jedes ernstzunehmende Nachrichtenmedium wäre deswegen der Einbau eines Mischfilters aus Zeit und Relevanz. Das ist weder Zensur noch Anmassung und schon gar nicht ein Rückschritt in der «Demokratisierung» der Medien.

Die Einordnung von Nachrichten ist angesichts der Explosion an Quellen vielmehr eine zukunftsträchtige Dienstleistung. Es ist die Rückkehr zum wohlprofilierten Nachrichtenkanal. Wenn ich im Ozean schwimmen will: Er liegt gleich nebenan.

Der Relevanzfilter wäre technisch leicht realisierbar

Das neue Feature kann durchaus parallel stehen zu den anderen Sekundärkriterien von «meistgelesen» und «meistkommentiert» bis zu «meistversendet», es setzt aber vor allem voraus, dass der Leser mit einem Slider auf der Webseite den gewünschten Zeitraum vorgibt.

Er erhält daraufhin für den vergangenen Tag, den laufenden Monat oder das ganze Jahr diejenigen “n” Nachrichten angezeigt, welche die Redaktion für die objektiv bedeutendsten hält. So würde aus dem Online-Medium je nach Kundenwunsch eine Wochen- eine Tages- oder eine Monatszeitung, oder sogar eine historische Chronik.

Die technische Umsetzung wäre relativ einfach:

  • Die Redaktion müsste jede Nachricht auf einer Relevanz-Skala einstufen.

  • Zur Bemessung dieses Werts könnte beispielsweise eine Einschätzung der zeitlichen Tragweite des Ereignisses herangezogen werden  (wird es für die Mehrheit der Menschen im Zielpublikum einen Tag, eine Woche, ein Jahr, zehn Jahre, fünfzig Jahre oder bis in alle Zukunft Auswirkungen haben?).

  • Der Wert würde in der Datenbank analog zur Kommentarzahl und anderen Kriterien gespeichert.

  • Bei der Ausgabe der relevantesten Nachrichten für einen Zeitraum gäbe es eine Vielzahl möglicher Spielarten: Die wichtigsten drei jeden Themengebiets, chronologisch angeordnet, oder in verschiedenen Schriftgrössen (als Reminiszenz an die Titelseite der Zeitung), absteigend nach Relevanz ungeachtet der Themengebiete – die Praxis liesse den Leser seine Lieblingsdarstellung wählen.

Dem im Wandel befindlichen Journalismus würde das eine nur teilweise neue Fähigkeit abverlangen: Die Einschätzungen von Ereignissen nicht einfach im Verhältnis zum Redaktionsschluss, sondern zu einem grösseren historischen Verlauf – und sogar zur Zukunft. Nachdem allerdings die Beschaffung von Informationen in den vergangenen 25 Jahren ungeheuerlich vereinfacht worden ist,dürfte sich die Medienwelt durchaus mit der Einordnung der Nachrichten wieder etwas zutrauen und damit eine Dienstleistung stärker gewichten, die ihr nicht jeder RSS-Feed-Aggregator streitig machen kann.

Ich bin überzeugt: Sie entspräche einem Bedürfnis. Denn die Menschen schätzen wohl die Demokratisierung der Medienwelt – das heisst aber lediglich, dass sie mittun und keineswegs, dass sie in den Nachrichtenströmen allein gelassen werden wollen.

Die Tore sind für immer offen, der Schleusenwart muss sich einen neuen Job suchen. Die Stelle des Pfadfinders im überfluteten Land wäre noch zu haben.

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