Besser lesen…

TagesanzeigerImmer mal wieder kriege ich Reaktionen auf einen Text. Das macht Spass, selbst wenn die eine oder andere Anmerkung nicht grade schmeichelhaft ist (ok, kommt auf den Ton an.) Was besseres kann einem Text erfahren, als dass er eine Diskussion ins Rollen bringt?

Der gestern im Tagi erschienene Text über Online-News hat mir einige Mails und Antworten eingebracht – von zustimmend bis hässig.

Unangenehm wirds, wenn aus den Kommentaren hervorgeht, dass jemand entweder den Text nicht richtig gelesen oder verstanden hat – oder, viel, viel schlimmer – wenn ich davon ausgehen muss, dass ich ihn nicht deutlich genug verfasst habe.

In diesem Fall aber meine ich deutlich genug gemacht zu haben, dass ich vom News-Journalismus, und nur davon, rede. Würde mir nicht im Traum einfallen zu behaupten, Journalismus online sei einfalls- oder gar zukunftslos – im Gegenteil.

Aber wenns um Nachrichten geht, also um jene kurzen Schnipsel, die aus aneinandergereihten Antworten auf die sieben W (was, wer, wo, wann, wie, warum – und das letzte hab ich vergessen) bestehen und eine Momentaufnahme des Stadt- /Land- /Welt- /Wirtschafts- /Sportgeschehens liefern sollen, dann hat sich doch bisher auch online wenig wirklich Innovatives getan. Abgesehen davon, dass die News schneller, mehr und allgegenwärtig geworden sind – und ich mir anhand der schieren Masse der Schnipsel immer weniger vorstellen kann, was eigentlich grade wirklich von Bedeutung ist. Natürlich laufen auch hier Experimente der Verlage gleich reihenweise. Aber noch mehr Videokamera-bewaffnete «Bürger-Journalisten», die mir jeden Autounfall fast schon live servieren, tragen nicht zu meinem Weltverständnis bei (mir reichen die «live»-Berichte der hiesigen lokalen TV-Stationen: Irgend ein «Korrespondent» steht für die 23-Uhr-Nachrichten frierend im Dunkeln auf einer Brücke über dem Freeway 101 in Palo Alto, wo sich abends um sieben ein Unfall ereignet hat…)

Nichts gegen News: Ich will und brauche auch meine tägliche Nachrichtendosis – aber ich bin dankbar für eine Triage. Früher übernahmen dies die Kollegen auf den Redaktionen, die am Dienstpult bis kurz vor Redaktionsschluss die Papierschlangen aus dem Ticker sichten und das halbe Prozent jener Meldungen auswählen mussten, welches aus dem Wust eines ganzen Tages in die Zeitungsspalten passte.

Heute sind die Zeit- genauso wie die Platzgrenzen aufgelöst: Alles kann sofort und in beliebigem Umfang ins Netz gestellt werden. Logischerweise wächst der Druck auf die Redaktionen, genau das zu tun – aber als Konsument fühle ich mich je länger je mehr vom anschwellenden Newsstrom belästigt statt informiert.

Ironischerweise, finde ich, geht es immer mehr Kollegen und Kolleginnen in den Informationsberufen so – sie ziehen analytische Medien mit einem gemächlichen Rhytmus vor, während die bisherige «reine Leserschaft», befreit vom Diktat der Gatekeeper, sich zu Newsjunkies entwickelt. Ich kenne das Gefühl, ich war selber vor fünfzehn Jahren als Volontär und Spätredaktor jeweils berauscht vom Gefühl, an der Faktenquelle zu sitzen, während mir die Meldungen aus den Tickern entgegenquollen. Um ein Uhr Morgens, nach Rdeaktionsschluss, war der Rausch der völligen Überforderung und einer Gestresstheit gewichen, die mich noch stundenlang nicht schlafen liess.

Dass sich neben dem tempo-getriebenen Nachrichtenjournalismus Online auch eine neue Art von bildhaftem, investigativem, analytischem Journalismus herausbildet, ist selbstredend richtig.

Und diese Texte sind nach wie vor sehr gefragt.

Wer daran zweifelt, soll einen Blick auf die Liste der meistgelesenen Texte aus der New York Times des letzten Jahres werfen (eine Statistik, die notabene nur dank online-Ausgabe möglich ist). Es sind ausnahmslos längere Ratgeber- oder analytische Hintergrundtexte.

Die einzige Frage, die sich jetzt stellt, ist die, an welchem Ende der journalistischen Palette «The Long Tail» zu finden ist: Machen die Kurzberichte und News insgesamt die grosse Masse aus oder sind es die von jeweils weniger Leuten konsumierten, dafür in viel grösserer Zahl vorhandenen langen, aufwändigen Texte?

Für Papierzeitungen spielt diese Frage noch eine Rolle, denn sie unterliegen dem Pareto-Prinzip. Ob sich das Online ändern wird, weil sich jeder Leser die Zeitung selber zusammenstellen kann, wird sich zeigen – vielleicht wollen die Leserinnen sich die Zeitung gar nicht selber zusammenstellen?

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